Christian Andreas Schulze: «Wie der Hirsch schreiet nach frischem Wasser» (Ps 42) (um 1680)

Christian Andreas Schulze
geboren um 1655 vermutlich in Dresden-Neustadt
gestorben 11. September 1699 in Meißen
Entstehungszeit des Psalmkonzerts:
um 1680
Psalmen, und vorgegebene Gebete überhaupt, sind wie Texträume, in die man sich mit seiner eigenen existentiellen Bedürftigkeit hineinbegeben kann. "Tohillim", also Preisungen, nennt die hebräische Bibel die Sammlung dieser alten Lieder und Gebete aus der Gebetstradition des alten Orients und der Geschichte Israels, die auch im europäischen Abendland zu Referenztexten der kirchlichen Gebete geworden sind. In diesen überlieferten Texten findet der Betende Raum, um seine aktuellen Tränen, Freuden und Sehnsüchte im wahren Inneren gegründet zu erfahren und damit den Grund seines Lebens erneut dankbar preisen zu können.
Psalmvertonungen sind dann wie Klangräume, in die man sich mit seiner eigenen existentiellen Melodie hineinbegeben kann.
Der Psalm 42 ist ein Muster, wie der Durst nach wahrem Leben und die Sehnsucht nach Verwurzelung der eigenen Identität in einem Gegenüber (von Antlitz zu Antlitz) ausgedrückt werden kann.
Nach den Gräuelzeiten des dreissigjährigen Krieges (1618 - 1648) war die Suche nach neuen Klangräumen gross, in denen man seine monodischen Gesänge abstützen konnte. Das Psalmkonzert «Wie der Hirsch schreiet nach frischem Wasser» entstand wohl in den 1680er Jahren in Meissen, wo ein gewisser Christian Andreas Schulze Stadtkantor war. Beeinflusst wohl auch von italienischen Vorbildern, aber tief in der deutschen Tradition des protestantischen Kirchenmusik stehend, gelang Schulze ein expressives Meisterwerk und eine berührende Psalmvertonung.
Hier zu hören: 11’32
Hörbegleiter:
Dunkle Orgelpunkte mit geballten, für das 16. Jhd. extremen Dissonanzen lassen uns Zuhörende im instrumentalen Vorspiel die aktuelle Not des Sängers erahnen. Nach kurzem Einhalt scheint ihm das Bild des dürstenden Hirsches einzufallen (der einzige Psalm, der mit einem Vergleich beginnt!), und Erleichterung scheint sich im Spiel der Instrumente einzustellen.
Auf jeden Fall findet der Sänger schliesslich die Worte und in Moll die Melodie für seine Klage. Eine eindrückliche Lamento-Figur wird zum Abbild des Hirsch-Schreies. Mehrmals und auch neueinsetzend, wiederholt der Sänger sein expressives Schrei-Motiv, das die eigene innere Not seiner Seele zum existentiellen Ausdruck bringt.
Ein instrumentales Zwischenspiel antwortet auf die Klage und bringt wie aus einer andern Wissensebene der Seele Zuversicht: es spielt ruhig und feierlich die Melodie des Kirchenliedes, dessen Text lautet: «Auf meinen lieben Gott / trau ich in Angst und Not./ Der kann mich allzeit retten / aus Trübsal, Angst und Nöten; / mein Unglück kann er wenden, / steht alls in seinen Händen.»
Zuversichtlicher singt der Sänger weiter, als ob ihm seine Grundkonstitution als «dürstender» Mensch für einen Moment bewusster geworden ist: Wann aber wird diese Sehnsucht Erfüllung finden?
Wieder antwortet das instrumentale Zwischenspiel mit seinem Choral.
Doch der Mensch bleibt mit seiner zerbrechlichen Tränen-Existenz allein: nur eine Laute begleitet den intimen und verletzlichen Klagegesang.
Das instrumentale Zwischenspiel erinnert zum dritten Mal an den Klangraum des Gebets, der eine tiefere Vertrauensbasis anbieten will.
Noch heftig betrübt klingen die Koloraturen des Sängers, und die Unruhe lässt sich expressiv spüren.
Doch der Sänger setzt mit seinem «Harre, harre» auf neue Lebendigkeit, Zuversicht und Dankbarkeit.
Der bescheidene Schluss wird zu einem ruhigen Akt der Hoffnung und der Preisung: mein Angesicht wird Hilfe in Gottes Angesicht, in meinem Gott finden.
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Wie der Hirsch schreiet nach frischem Wasser
so schreit meine Seele, Gott, zu dir.
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Meine Seele dürstet nach Gott, nach dem lebendigen Gott.
Wann werde ich dahin kommen, dass ich Gottes Angesicht schaue?
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