Johann Adam Reincken: Choralfantasie «An Wasserflüssen Babylon» (um 1663)

J.S. Bachs Kopie von Reinckens An Wasserflüssen Babylon in Tabulatur-Notenschrift
Johann Adam Reincken
getauft 20. Dezember 1643 in Deventer (NL)
gestorben 24. Nov. 1722 in Hamburg (D)
Entstehung:
um 1663
Als Johann Sebastian Bach als 15jähriger zum Studium in einem Kollegium in Lüneburg in Norddeutschland weilte, wanderte er auf Empfehlung eines seiner Lehrer von Lüneburg nach Hamburg. Er wollte einen berühmten Organisten an einer der neuesten und grössten Orgeln der damaligen Zeit spielen hören. Das waren immerhin rund 11 Stunden Marsch. Der Organist hiess Johann Adam Reincken. Bach war von dessen musikalischen Entdeckungen überwältigt, besonders von dessen Choralfantasie über das Kirchenlied «An Wasserflüssen Babylon». Zurück in Lüneburg machte er eine Abschrift dieser Komposition in der damals üblichen Buchstabennotation (Tabulatur genannt), eine Abschrift, die erst kürzlich 2005 wiederentdeckt wurde.
Reinckens Choralfantasie «An Wasserflüssen Babylon» ist ein höchst komplexes, schwierig zu hörendes, rund 15-20 Minuten langes Orgelstück. In der heutigen Zeit, wo alles schnell gehen muss, steht dieses kunstvoll aufgebaute Werk quer in der Landschaft. Ursprung dieses Kirchenliedchorals ist der biblische Psalm 137. Die nach Babylon deportierten Hebräer beklagen ihr Schicksal und die Zerstörung des Tempels auf dem Berg Zion. Die Edomiter und Babylonier hatten Jerusalem überfallen, dort grausam gewütet, die Gefangenen deportiert, sodass die Deportierten sich in ihrem Psalmgesang beklagten, wie viel Leid sie in Babylon zu ertragen hatten.
Aus dem biblischen Psalm 137 wurde ein lutherisches Kirchenlied (komponiert von Wolfgang Dachstein, einem Studienkollegen Martin Luthers) und aus dessen Melodie Reinckens Choralfantasie.
Wie ein Musikwissenschaftler schreibt, wird jede Choralzeile «ausführlich dargestellt, wobei alle Hilfsmittel der norddeutschen Orgelkunst zur Anwendung gelangen: motettische Durcharbeitung, Figurierung des Chorals in der Oberstimme (…), Doppelpedal, Fragmentierung und Echo-Effekte.» Weil es unser Hörvermögen übersteigt, wenn wir diese, eine der komplexeste Orgelkompositionen des 17. Jahrhunderts zum ersten Mal hören, folgen hier drei einfachere Hörhilfen zur Auswahl.
Hier zu hören (ca. 16 Min.)!
Hier zuerst die Melodie des Kirchenlieds zusammen mit dem Text der ersten Strophe der Nachdichtung dieses Psalms aus der Reformationszeit:

An Wasserflüssen Babylon
Da saßen wir mit Schmerzen;
Als wir gedachten an Sion,
Da weinten wir von Herzen;
Wir hingen auf mit schwerem Mut
Die Orgeln und die Harfen gut
An ihre Bäum der Weiden,
Die drinnen sind in ihrem Land,
Da mussten wir viel Schmach und Schand
Täglich von ihnen leiden.
Hörhilfe 1
Die Melodie der ersten Zeile des Hymnus ist in den ersten sechs Takten der Komposition als Cantus firmus in der Tenorstimme erkennbar. Der erste Stollenabschnitt entwickelt sich als Monodie (gespielt von der rechten Hand) über einer fugierten Vertonung. Insgesamt tritt die Figuration zugunsten einer motettenhaften Polyphonie zurück.
In den Takten 82 bis 107 folgt die Wiederholung des Stollens, der Zeilen drei und vier des Hymnentextes. Die Wiederholung des Stollens ist kürzer als der erste Stollen und führt ein virtuoses Element ein. In der dritten Zeile spielt die linke Hand mit phantasievollen Verzierungen in der Tenorstimme bis zu den höchsten Tönen auf der Klaviatur, während die vierte Zeile durch Verzierungen der Diskantstimme gekennzeichnet ist.

An Wasserflüssen Babylon
Da saßen wir mit Schmerzen;
Als wir gedachten an Sion,
Da weinten wir von Herzen;
Mit 128 Takten ist dies der längste Abschnitt der Choralfantasie, der nacheinander die Zeilen fünf bis acht des Chorals behandelt. Der Abschnitt ist symmetrisch aufgebaut: Die äußeren Episoden (Zeile fünf und acht) arbeiten beide ein ähnliches, canzonartiges Thema aus, und die mittleren Episoden (Zeile sechs und sieben) haben beide punktierte Rhythmen und verwenden die Echo-Technik.

Wir hingen auf mit schwerem Mut
Die Orgeln und die Harfen gut
An ihre Bäum der Weiden,
Die drinnen sind in ihrem Land,
Obwohl der letzte Abschnitt der Choralfantasie nur die verbleibenden zwei Zeilen des Hymnus "An Wasserflüssen Babylon" verarbeitet, besteht er dennoch wie der vorangegangene Abschnitt aus vier Episoden.
Zunächst als stilistisch archaischer Kanon, der mit einem erhöhten cantus firmus im Pedal endet.
Weiter geht es mit einer dramatischen Interaktion, die von Vokalformen wie dem Geistlichen Konzert inspiriert zu sein scheint.
Die vorletzte Zeile der Choralmelodie wird in den Takten 236-290 zweimal ausgearbeitet:
- Zunächst als stilistisch archaischer Kanon, der mit einem überhöhten Cantus firmus im Pedal endet.
- Als nächstes folgt eine dramatische Interaktion, die von Vokalformen wie dem Geistlichen Konzert inspiriert zu sein scheint.
Die letzte Zeile der Choralmelodie wird ab Takt 291 zunächst in einer dialogischen Echo-Vertonung behandelt, gefolgt von einer ausgedehnten virtuosen Coda, die sich ebenfalls der Echo-Technik bedient. Diese letzten Passagen der Choralfantasie beginnen mit schnellen, einander fast kanonisch imitierenden Melodielinien in beiden Händen und endet in einer abfallenden Scala bei der tiefen Endnote F.


Da mussten wir viel Schmach und Schand
Täglich von ihnen leiden.
Hörhilfe 2
Wir können dieser Komposition aber auch so zuhören, dass wir uns innere Bilder machen. Zuerst die Wasserflüsse und Kanäle rund um Babylon, zwischen Euphrat und Tigris gelegen. Streng und unbewegt schauen die Deportierten ins Wasser. Dann, nach einem kurzen musikalischen Zwischenschluss, erinnern sie sich an Zion und das vergangene gute Leben und befreien sich aus der Erstarrung. Vielleicht können Sie darauf das lösende Klagen und Weinen der Deportierten hören. In einem anderen Abschnitt hört man Harfen, die die Deportierten weglegen und resigniert an Weidenbäume hängen. Vielleicht hören sie gegen Schluss sogar wie vom Wind erzeugte Klänge der Sehnsucht und Hoffnung auf Rückkehr in ihre Heimat.
Hörhilfe 3
Es gibt noch eine dritte Möglichkeit, diese Musik zu hören, weder musik-akademisch noch mittels anschaulicher Bilder: Hören sie einfach zu, lassen Sie Musik und Zeit an ihnen vorbeigehen, tauchen sie ein, in den Klang der Zeit und die Melodien der Trauer, reisen sie mit, 20 Minuten lang durch Harmonien, Läufe, Akkorde, Echos und wie auf einer guten Reise, warten sie nicht auf die Ankunft, sondern leben sie im Jetzt.
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