Louis Spohr: Die letzten Dinge, Oratorium nach Worten der Heiligen Schrift (1826) - Schlussszenen

Louis Spohr

geboren 5. April 1784 in Braunschweig,
gestorben 22. Okt. 1859 in Kassel

Text:
Friedrich Rochlitz, Leipzig (1769 - 1842)

 

Uraufführung:
Karfreitag 1826 in Kassel, Leitung: Louis Spohr

 

Das letzte Buch der christlichen Bibel (die Apokalypse oder Geheime Offenbarung des Johannes) ist eine Trost- und Hoffnungsschrift, die während Christenverfolgungen im römischen Reich gegen Ende des 1. Jahrhunderts entstanden ist. Das Buch löste in den Kirchen immer wieder Diskussionen aus, noch heute wird das Buch der Apokalypse in den Liturgien der Ostkirchen als einzige biblische Schrift nicht vorgelesen, die syrisch-orthodoxe Kirche hat sie überhaupt nicht in ihre Bibel aufgenommen.

Viele der Motive dieses fantasievollen biblischen Buches stammen allerdings aus der  altisraelisch prophetischen oder frühjüdisch apokalyptischen religiösen Literatur. Das Visionäre, Utopische und Katastrophische der beschriebenen Zukunftsprojektionen hat immer wieder verschiedenartige Deutungen inspiriert, verweisen wir nur auf das Motiv des tausendjährigen Reiches oder auf das oft abgebildete Christus-Symbol des Lammes, das das Buch mit den sieben Siegeln öffnen wird. Letztlich aber wollen alle diese im Buch enthaltenen Visionen Mut und Hoffnung gerade in angstvollen katastrophalen Zeiten bestärken. Letztlich (und als Letztes der «letzten Dinge»!) wird Gott als Licht über alles Unrecht und Böse siegen und sogar unter uns «wohnen».

Das Oratorium von Louis Spohr geht geistesgeschichtlich auf romantische Weise auf dieses antike Buch zu. Als Spohr nach seiner Virtuosenzeit als berühmter Geiger ab 1822 Hofkapellmeister am Hof zu Kassel wurde, hatte er auch einen Chor zu Verfügung. Selbst kannte Spohr noch aus eigener Singerfahrung das alte Chorrepertoire von Telemann, Graun bis Carl Philipp Emanuel Bach, musste also nicht - wie die nächste Generation von Mendelssohn und Schumann - die alte geistliche Chortradition wieder neu entdecken. So war er an Komposition und Aufführung eines Oratoriums interessiert, als er 1825 von Friedrich Rochlitz, dem langjährigen Redaktor der Leipziger Allgemeinen Musikzeitschrift,  ein selbstverfasstes Libretto erhielt, das eine Auswahl ausschliesslich biblischer Zitate zum existentiellen Thema der «letzten Dinge» wirkungsvoll anordnete. Trotz der biblischen Texte hatten aber weder Rochlitz noch Spohr die Absicht, ein liturgisches Werk für den Gottesdienst zu schaffen. Sie wollten vielmehr jeden Menschen individuell ansprechen, gerade damals anfangs des 19. Jhd. in den schwierigen Wendezeiten von Aufklärung, Umbruch des Bibelverständnisses, französischer Revolution, Wiener Kongress und Restauration. Musik im romantischen Sinn machte es möglich, kunstvoll nachzuempfinden, wie die existentiellen Fragen nach Tod und Jenseits individuell das Innenleben berührten. Insofern ist das Oratorium «Die letzten Dinge» von Spohr ein Beispiel von Kunstreligion, die sich vom Gottesdienst emanzipierten beziehungsweise ihn für das bürgerliche Selbstverständnis autonom ergänzen wollte.

Wie das dann musikalisch klingen sollte, hatte Rochlitz in einem Brief an Spohr bereits angedeutet:

«Übrigens werden Sie leicht bemerken, dass ich dem, was doch eigentlich den Gipfel u n s r e r Musik ausmacht - der vollendetsten Orchestermusik - Raum und Gelegenheit gegeben habe, (so auch für Ausmalung der innigsten, den Worten nicht mehr zugänglichen Gefühle) selbstständig aufzutreten, wie das in Gesangswerken noch nirgends geschehen ist; und Sie, mit Beethoven, doch ganz gewiss der größte Meister dieser Gattung, werden damit zuverlässig die herrlichsten Wirkungen hervorbringen. Die Momente, die ich dafür gewählt, sind gut - ich darf das behaupten; sie lassen auch zu, wahrhaft Neues zu sagen, selbst durch besondere Wahl und Anordnung der Instrumente» (Brief von Rochlitz an Spohr, Leipzig d. 18ten Jul. 1825).

Hier zu hören (ca 21 Min.)!

Nr. 14: Die Stunde des Gerichts  (0'50)

Nr. 15: Gefallen ist (6'31)

Nr. 16: Selig sind die Toten (3'09)

Nr. 17: Siehe, einen neuen Himmel (2'09)

Nr. 18: Und siehe, ich komme bald (1'04)

Nr. 19: Gross und wunderbarlich sind (6'39)

Hörbegleiter:

Musik

Text

Nr. 14 Recitativo (T)

Die Schlussszenen des Oratoriums «Die letzten Dinge» handeln vom Endgericht über Lebende und Tote sowie von der neuen Welt Gottes, wie sie im biblischen Buch «Offenbarung des Johannes» sowie ergänzend in den Büchern Jeremia und Ezechiel dargestellt werden. Um der Energie dieser Ereignisse gerecht zu werden, eigenen sich Arien (wie noch in den Oratorien Haydns) nicht mehr, sondern bloss «begleitete Recitative, kurze mehrstimmige Soli und vor allem Chöre, doch keine doppelten oder sonst sehr künstlichen, wie sie jetzt nun einmal nicht mehr wirken würden. Es handelt sich hier allein um Idee, Charakter und feste Haltung des Styls». So der Librettist Friedrich Rochlitz.

So leiten denn kraftvolle g-moll-Bläserakkorde und ein kurzes Tenor-Rezitativ die Schlussszene der Stunde des Gerichts ein.

Nr. 14 Recitativo (T)

Die Stunde des Gerichts, sie ist gekommen. Anbetet den, der gemacht hat Himmel und Erde. (Offb.14,7)

Nr. 15 Coro

Darauf entlädt sich der ganze angestaute Schrecken im 4-stimmigen Triumph des Chores und der Pauken des Orchesters, dass Babylon gefallen sei. «Gefallen» wird fast manisch immer wieder wiederholt.

Suchende Fugati malen das Ringen mit dem Tod.

Die Kontrabässe bekräftigen rhythmisch, dass die Stunde der Ernte da ist.

Im anschliessenden Pianissimo sieht der Chor erblassend zu, wie Gräber und Meer die Toten freigeben.

Dann ist das Siegel gebrochen.

Auf dem Satzhöhepunkt schweigt der Chor und das Orchester übernimmt die Reprise des Schreckens in g-moll. Das Orchester wird zum magischen Träger nicht nur des musikalischen, sondern auch des gefühlten kosmischen Geschehens. Ohne vordergründig illustrativ zu wirken, gelingt es Spohr, die Welt aus dem Zustand des katastrophalen Zusammenbruchs in ein Neuwerden zu verwandeln. Man ist am klanglichen Entstehen einer neuen Schöpfung sozusagen emotional mitbeteiligt. 

Nr. 15 Coro

Gefallen ist Babylon, die Große. (14,8)

Sie suchen den Tod und finden ihn nicht, sie ringen nach ihm, er fliehet sie. (9,6)

Die Stunde der Ernte ist da.

Reif ist der Erde Saat. (14,15)


Das Grab gibt seine Toten, das Meer gibt seine Toten (20,13).

Das Siegel wird gebrochen (8,1), das Buch wird aufgetan (20,12). Sie zagen, sie beben. Es ist geschehen. (21,5)

Nr. 16 Soli (SATB) e Coro

Himmlisch transparent setzen zunächst nur die Solisten in einem reinen Vokalsatz «Selig sind die Toten» ein. Dann wiederholt der Chor a capella den tröstlichen Gesang, nur durch einige verbindende Holzbläserakkorde begleitet. Die Schönheit dieses klanglichen Moments wurde nicht nur von Spohrs Zeitgenossen bewundert. Auch spätere Komponisten fanden hier Anregung (wie z.B. Brahms im Deutschen Requiem und in der Alt-Rhapsodie!).

Dieses grosse «Ausruhen» am Übergang zur neuen Welt klingt in einer heutigen beschleunigten Leistungsgesellschaft wie eine utopische Verheissung.

Nr. 16 Soli (SATB) e Coro

Selig sind die Toten, die in dem Herren sterben, von nun an in Ewigkeit. Sie ruhen von ihrer Arbeit, und ihre Werke folgen ihnen nach. (14,13)

 

Nr. 17 Recitativo (SA)

Das Orchester – von Flötenklang und einem Horn-Solo angeführt – entwirft eine Art D-Dur-Morgenstimmung der neuen Welt. Rezitativisch verkündet der Sopran einen neuen Himmel und eine neue Erde, deren Spezifikum darin besteht, dass Gott in ihr wohnen und ihr Licht sein wird. Das Alt-Solo betont, dass kein Bedarf mehr an Tempel und wohl auch Kirchen-Personal sein wird.

Nr. 17 Recitativo (SA)

Sieh, einen neuen Himmel und eine neue Erde (21,1), von Gott bereitet und schön geschmückt als eine Braut. (21,2)

Sieh, eine Hütte Gottes bei den Menschen, er wird bei ihnen wohnen, sie werden sein Volk sein! (21,3)

Nicht Sonne mehr noch Mond: Er ist ihr Licht, und seine Herrlichkeit umleuchtet sie. (21,23)

Kein Tempel steht in Gottes Stadt. Er ist ihr Tempel und das Lamm. (21,22)

Nr. 18 Recitativo (T) und Quartett

Die Solisten verheissen in grösster Ruhe das Kommen der Gerechtigkeit im Sinne der befreienden jesuanischen Philosophie.

Nr. 18 Recitativo (T) und Quartett

Und siehe, ich komme bald und mein Lohn mit mir, zu geben jeglichem nach seinen Werken. (22,12)

Ja komm, Herr Jesu. (22,30)

Nr. 19 Soli (SATB) e Coro

Es folgt wie in einem Händelschen Oratorium ein bekräftigender 4-stimmiger Schlusschor, allerdings jetzt für die aufkommende Laienchortradition der bürgerlichen Gesellschaft einfacher gesetzt, aber nicht weniger wirkungsvoll.

In erhabenem C-Dur beginnt der Chor unisono mit dem Lob der Grösse «deiner Werke». Eine schlichte Fuge über dieses Thema schliesst sich an.

Nach kurzem beschliessenden Orchesterabschnitt beginnt das Solistenquartett den Preis «deines Namens», was zweimal einprägsam in den höchsten Ruf aller auf Transzendenz verweisenden Rufe mündet: «Du allein bist heilig!», alterniert auch wieder vom in Ergriffenheit harmonisch wohlklingenden Chor.

Nach zwei Halleluja-Rufen beginnt der Chor die Schlussfuge mit einem aufsteigenden Fugenthema auf die Worte der vom Vater unser-Gebet bekannten Doxologie. Auch dank dem Einsatz von drei Posaunen führen Chor und Orchester dieses Oratorium zu einem feierlichen, wenn auch besinnlichen Schluss. Ewigkeit, Halleluja und Amen vermischen sich im Orchesterklang und den Chorstimmen.

 

Nr. 19 Soli (SATB) e Coro

Groß und wunderbarlich sind deine Werke, Herr, allmächtiger Gott. Gerecht und wahrhaftig sind deine Wege, du König der Heiligen. Wer sollte dich nicht fürchten, Herr, nicht deinen Namen preisen? Du allein bist heilig. Und alle Völker der Erde werden kommen und anbeten vor dir. (15,3-4)

Halleluja! Sein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit von Ewigkeit zu Ewigkeit.

Amen. Halleluja. Amen

Zum Schluss stehe ohne Kommentar die feinfühlige Beobachtung des Librettisten Friedrich Rochlitz, als er das Oratorium erstmals 1827 in seiner Heimatstadt Leipzig gehört hatte:

«Die Wirkung des Ganzen auf das gesammte Auditorium war (ich schreibe Ihnen durchgehends die treueste Wahrheit) nicht ganz so, wie ich mir's vorher gedacht hatte: aber vielleicht b e s s e r. Es imponirte im hohen Grade; es erhielt bis zur letzten Note in feyerlicher Stimmung und innerster Bewegung daher eine Todtenstille durch das ganze Werk ; aber es schien, die Menge wußte nicht, wie ihr geschehe ; sie fühlte sich in fremder, ganz ungewohnter Welt; daher durchaus kein Zeichen lauten Beyfalls gegen Einzelnes: man ging ernst und still auseinander. Diesen Morgen erst kamen einige unsrer geistvollsten Männer zu mir, voll Ihres Lobes. Noch einmal: Vielleicht eben diese Wirkung die rechte, und besser, weit besser als die ich mir vorher gedacht hatte. (Brief von Rochlitz an Spohr, Leipzig, d. 9ten Apr. 1827)»

Hinweis für Musikinteressierte:

Website: Unbekannte Violinkonzerte

 

Erstelle deine eigene Website mit Webador