Franz Liszt: Andante lagrimoso und Cantique d’amour, aus: Harmonies poétiques et religieuses (1853)

Franz Liszt
geboren 22. Oktober 1811 in Raiding, Kaisertum Österreich
gestorben 31. Juli 1886 in Bayreuth
Komposition:
1833: Erstfassung in Paris: Harmonies poétiques et religieuses
1849 - 53: Konzeption und Komposition in Weimar der editierten Fassung 1953 von Harmonies poétiques et religieuses
Liszt befand sich mit kaum 17 Jahren in einer tiefen Lebenskrise. Sein Vater war 1827 gestorben, er unglücklich, weil standesungemäss, verliebt. Dank seiner grossen Erfolge als junger Pianist war er umschwärmt, aber auch erschöpft. Zudem war die Welt politisch aus den Fugen, es waren die politisch unruhigen Jahre im Paris vor 1848.
Immer mehr fragte sich Liszt, ob es nicht Aufgabe von Kunst und Religion wäre, positiven Einfluss auf eine kriselnde Gesellschaft zu nehmen. Liszt las Byron, Chateaubriand, Lamartine, Lamennais, interessierte sich für die Lehre der Saint-Simonisten und die soziale Frage. Er zog sich zeitweise aus dem öffentlichen Leben zurück, wollte gar Priester werden. 1833 komponiert er eine erste Version der Harmonies poétiques et religieuse - angestossen vom gleichnamigen religiös-gedankenlyrischen Gedichtband von Alphonse de Lamartine -, ein kompositorisch geradezu kühnes Werk, das damals in den Pariser Salons nicht aufführbar war. Im gleichen Jahr, 1833, traf Liszt Marie d’ Agoult und verliebte sich in sie. Diese war unglücklich mit dem 15 Jahre älteren Grafen d’ Agoult verheiratet und floh mit Liszt in die Schweiz nach Genf. Anschliessend folgten für Liszt Jahre der erfolgreichen Konzerttätigkeit und der Erfolge. Nach der unglücklichen Trennung von Marie führte ihn schliesslich die neue Beziehung mit der ukrainischen, ebenfalls unglücklich verheirateten Gräfin Carolyn von Sayn-Wittgenstein nach Weimar, wo er ab 1848 eine Anstellung als Hofkomponist fand. Erst hier beschloss Liszt, seinen Klavierzyklus, den er 1833 begonnen hatte, neu durchzusehen und neu zu konzipieren.
In den Jahren 1849 – 1853 beendete Liszt Harmonies poétiques et religieuses, einen Zyklus mit Klavierstücken über Gedichte von Lamartine sowie Texte der katholischen Gebetsliturgie. Wie von Musikwissenschaftlern heute immer mehr herausgestellt wird, hat der gesamte Zyklus eine spirituelle Dramaturgie, die zu einer religiös nacherlebbaren Transformation von Leid zu Freude führen soll.
Liszt übernahm das Vorwort, das Lamartin seinem Gedichtzyklen voranstellte, für seinen Klavierzyklus, um auszudrücken, was Kunst, Poesie und eben auch seine Musik im romantischen Selbstverständnis bewirken mögen:
«Es gibt beschauliche Seelen, die sich in stiller Einsamkeit und Betrachtung unwiderstehlich zu überirdischen Ideen, zur Religion, erhoben fühlen. Jeder Gedanke wird bei ihnen Begeisterung und Gebet, und ihr ganzes Sein und Leben ist eine stumme Hymne an die Gottheit und an die Hoffnung. In sich selbst und in der umgehenden Schöpfung suchen sie nach Stufen, um zu Gott aufzusteigen; nach Worten und Bildern, um ihn sich selbst und um sich ihm zu offenbaren. Möge es mir gelungen sein, ihnen in diesen Harmonien etwas solcher Art dargeboten zu haben!
Es gibt Herzen, die, vom Schmerz gebrochen, von der Welt zertreten, sich in die Welt ihrer Gedanken, in die Einsamkeit ihrer Seele flüchten, um zu weinen, zu harren oder anzubeten. Mögen sich diese gerne von einer Muse aufsuchen lassen, die einsam ist, gleich ihnen; mögen sie in ihren Tönen Einklang und Zusammenstimmung finden, und manchmal bei ihrem Liede ausrufen: Wir beten mit deinen Worten, wir weinen mit deinen Tränen, wir flehen mit deinen Gesängen.
Alphonse de Lamartine - aus dem Vorwort zu den "Harmonies poétiques et religieuses"
Der ganze Zyklus dauert rund 90 Minuten. Hier beschränken wir uns auf die beiden letzten religiös-poetischen Stimmungswerke, das Andante lagrimoso und den Cantique d’amour. Möge diese Konzentration dazu führen, später auch den ganzen Zyklus mitzuhören. Denn Liszt war als Künstler viel mehr als ein Klaviervirtuose. Gewidmet sind die Harmonies Caroline von Sayn-Wittgenstein.
Hier zu hören:
Andante lagrimoso (ca. 7 ½ Min)
Cantique d’amour (ca. 7 ¼ Min.)
Hörbegleiter:
9. Andante lagrimoso
Dem neunten Klavierstück seines Zyklus Harmonies poétiques et religieuses stellte Liszt zu Beginn die folgenden Zeilen von Lamartin’s Gedicht «Une larme ou consolation» voran. Sie beschreiben das stille, unaufhörliche Fallen von Tränen auf ein Land ohne Erbarmen:
Tombez, larmes silencieuses
Sur une terre sans pitié,
Non plus entre des mains pieuses,
Ni sur le sein de l’amitié !
Tombez comme une aride pluie
Qui rejaillit sur le rocher,
Que nul rayon du ciel n’essuie,
Que nul souffle ne vient sécher.
Das Stück beginnt düster und stockend in gis-moll. Eine statisch voranschreitende Basslinie bildet die Einleitung, darüber ein Seufzermotiv.
Nach einer Fermate erklingt über düsterem Bass das Thema dieses Klavierstücks mit dreimal wiederholtem hohem Gis, das an die «stillen Tränen» des Gedichts denken lässt.
Nach 18 Takten traurig-seufzenden Aus-Weinens folgt wieder nach einer Fermate eine erste Variation dieser Melodie in h-moll, die bald nach D-Dur wechselt und die trostlos weinende Melodie ins mittlere Register des Klaviers einkehren lässt. Bass- und Sopran-Begleitung begleiten akkordisch diese klagende, schliesslich in Trostlosigkeit endende Melodie.
Eine pianistisch weit ausgreifende Kadenz führt zur nächsten Variation, die wie in eine andere Sphäre nach C-Dur führt. Die beiden Hände spielen im hohen Violinschlüssel, die Melodie lässt sich in der Mittellage erkennen. Arpeggierende Sphärenklänge umgeben sie, als wollten sie alles Melodiöse austrocknen. Dieser Mittelteil führt über mehrere Tonarten bis zu einer heftig auffahrenden fünftaktischen Kadenz in As-Dur.
Cantabile beginnt die dritte Variation der Melodie für einen kurzen Moment im tröstenden As-Dur, moduliert aber bald über wechselhafte Stimmungen zurück nach gis-moll und fällt schliesslich zurück in die einleitenden Anfangstakte dieses Andante lacrimosa. Vier Schlusstakte beschliessen als Coda den Klagegesang resignativ, doch nicht ohne leise Erwartung mit einem leisen D.
10. Cantique d’amour
Das Seufzermotiv - gleich zweimal zu Beginn - und das absteigende Drei-Ton-Motiv im Bass verbinden das Andante lagrimosa mit dem Schlusssatz Cantique d’amour, auf den der ganze Klavierzyklus hinzielt. Dabei taucht in dieser 6-taktigen Einleitung der letzte gis-Moll-Akkord aus dem Andante lagrimoso wieder auf und wechselt leise zum Dominantakkord von E-Dur.
In E-Dur erklingt dann die von Harfen-Arpeggien lichtvoll begleitete Gesangs- und Liebesmelodie - andante cantando - als Symbol finaler Erlösung von vergangenen Leiden, wie sie sich Liszt persönlich in der Begegnung mit der neuen Geliebten, der Widmungsträgerin «Jeanne Elisabeth Caroline» (sic!, gemeint ist die Gräfin von Sayn-Wittgenstein), erhofft. Weltliches und Transzendentes begegnen sich. Noch ein zweites Mal setzt das E-Dur Thema an, weiterhin wie von Harfen begleitet.
Dann wechselt die Stimmung leise nach B-Dur und steigert sich bei abfallenden Begleitakkorden in die Subdominante Es-Dur, wo wie von einem anderen Stern eine zarte Melodie hervorscheint, von hellen Akkord-Bögen begleitet.
Dann folgt erneut in der Tenorstimme das anfängliche Liebesthema in E-Dur wieder, immer virtuoser begleitet und sich zu einem hymnischen Höhepunkt steigernd.
Eine dramatisch virtuose Oktavenpassagen-Kadenz leitet über zur Coda und zum Höhepunkt der Dramaturgie dieses Zyklus. Die Liebesmelodie inklusive Seufzermotiv verwandelt sich in einen Hymnus. Die wiederkehrenden aufsteigenden Arpeggios beschreiben, was man geistliche Erhebung nennen könnte, und ein E-Dur Orgelpunkt am Schluss, verbunden mit einem poco accelerando, verstärkt den ekstatischen Moment.
Am Schluss steht jedoch nicht ein subjektives Abheben. Liszt setzt aller Ekstase zum Schluss drei nüchterne Akkordfolgen entgegen, eine Dreiton-Einheit, die von Beginn des Zyklus allgegenwärtig immer wieder aufgetaucht ist.
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