Antonio Caldara / J. S. Bach: Sanctus G-Dur BWV 240 (um 1740)

Bearbeitung des Anfangsteil des "Gloria" aus einer anonymen Messe in G (Antonio Caldara?), die im Archiv der Prager Kreuzherren unvollständig überliefert ist.
In J. S. Bachs Notenbibliothek befand sich eine Bearbeitung des Gloria-Anfagsteils, umgearbeitet in ein Sanctus, inklusive Textparodie (vermutlich) durch J. S. Bach. Diese Partiturabschrift (dat. 1742) des Sanctus stammt von Bach selbst (D-B: P 13, Fasz. 2)

Antonio Caldara
geboren 1670 in Venedig
gestorben 28. Dez. 1736 in Wien

Johann Sebastian Bach
geboren 31. März 1685 in Eisenach
gestorben 28. Juli 1750 in Leipzig

 

Uraufführung
um 1742 in Leipzig durch J. S. Bach

Zum Vergleich:
Das Manuskript der h-moll-Messe stammt aus den Jahren 1748/1749.

 

 

Der Ausruf «Kadosch, kadosch, kadosch» (Heilig, heilig, heilig) ist ein wichtiger Teil des Keduscha-Abschnitts im Amida-Gebet, dem Hauptgebet in jedem jüdischen Gottesdienst. Die Gemeinde steht bei jedem Kadosch auf die Zehenspitzen, ein symbolischer Akt, um ein Stück näher «seinem Namen» zu kommen. »Kadosch« bedeutet »zu unterscheiden« oder einfach »anders« zu sein. Man bekennt das Anderssein der Transzendenz, um sich dieser doch zu nähern. In der katholischen Messe steht das dreimalige Sanctus am Anfang des zentralen Hochgebets. Das Dreimal-Heilig stammt aus der Vision des Jesaia, mit der er vor 2700 Jahren auf die damalig extrem bedrohliche Situation Israels reagierte. Seine Vision veranschaulicht, dass das damalige politische Geschehen ihn sowohl herausforderte wie auch verängstigte. Aus dieser Vision stammt das Dreimal-Heilig, das seither nicht nur Liturgie-, sondern auch Musikgeschichte gemacht hat:

1In dem Jahr, in dem König Usija starb,
hatte ich eine Vision:
Ich sah den Herrn
auf einem hoch aufragenden Thron sitzen.
Die Schleppen seines Gewandes
füllten die ganze Tempelhalle aus.
2Serafim standen dienend vor ihm.
Jeder von ihnen hatte sechs Flügel.
Mit zweien verhüllte er sein Gesicht,
mit zweien seine Beine,
und mit zweien flog er.
3Die einen riefen den andern zu:
»Heilig, heilig, heilig ist der Herr Zebaot!
Sein herrlicher Glanz erfüllt die ganze Erde.»
4Die Türschwellen bebten bei ihrem lauten Ruf,
und der Tempel füllte sich mit Rauch.“
(Jes 6,1–4)

Für seine grossartige h-moll-Messe (BWV 232), die gegen Ende seines Lebens zu einer Art Bestandesaufnahme seiner geistlichen Vokalkunst wurde, wählte Johann Sebastian Bach aus all seinen Sanctus-Kompositionen seine beeindruckendste Vertonung des Sanctus in D-Dur aus: 1724 erstmals aufgeführt, später 1743 und 1748 wieder aufgeführt, formal als Präludium (der Sanctus-Teil) mit anschliessender Fuge (Pleni sunt coeli et terra) aufgebaut, für 6-stimmigen Chor komponiert entsprechend den Angaben des Jesaias. Doch es ist belegt, dass Bach für sein Vermächtnis geistlicher Musik noch andere Sanctus-Vertonungen prüfte, die er selber komponiert oder von Kollegen übernommen und bei Gelegenheit selbst aufgeführt hatte.

Hier möchte ich auf das kurze G-Dur Sanctus BWV 240 hinweisen, das im Vergleich zum D-Dur Sanctus der h-moll-Messe aufführungsmässig ein Randdasein fristet, obwohl es Bach für mehrere eigene Aufführungen auswählte und für seine kirchlichen Aufgaben bearbeitete. Unterdessen weiss man, dass es keine Eigenkomposition von Bach ist. Die Bach-Forschung hat aufgezeigt, dass es dem Werk des aus Venedig stammenden und in Wien wirkenden Zeitgenossen Bachs Antonio Caldara (1670 – 1736) zuzuordnen ist.

Dass Bach dieses Werk aufführte, spricht noch heute für die Qualität und Originalität dieser Musik. Es hat nicht die visionäre, an die Berufung Jesaias erinnernde Schwere. Es erinnert eher an die Weihnachtsgeschichte und deren Engelchöre. Das Sanctus von Caldara / Bach kommt leichter und beschwingter daher, es prägt sich ein durch das ununterbrochen aufschwingende Tonleiter-Motiv und durch seine Kürze.

Beide Sanctus-Vertonungen – das bekannte Sanctus aus der h-moll-Messe wie auch das Caldara-Sanctus - können die aufmerksam Zuhörenden für Geistliches öffnen, das eine durch seine Wucht und seinen Ernst, das andere durch seine Leichtigkeit und barocke Beschwingtheit, zwei Aspekte der Heiligkeit, die auf die verborgene Andersheit (Transzendenz) und die unmittelbare Nähe (Immanenz) des Heiligen aufmerksam machen können. 

Hier zu hören (ca. 2'30)!

 

 

Hörbegleiter:

Die Sopranstimme des Chors eröffnet in grosser Leichtigkeit die Vision des Heiligen mit einer aufwärts schwingenden Geste, der G-Dur Tonleiter. Unmittelbar darauf folgt ein einfaches,  rhythmisches, kontrapunktisches Gegenmotiv. Der Tenor imitiert kanonisch diese einprägsamen Motiv-Gesten und der gesamte Chor folgt mit kontrapunktischen Motivverarbeitungen.

Das Orchester spiegelt in einem kurzen Zwischenspiel den Chor in milderen Klangfarben. Erste Oboe und erste Geigen beginnen mit dem aufschwingenden Tonleitermotiv auf der Dominante, während erste und zweite Oboen und Geigen darauf das Gegenmotiv breit aussingen.

Dann startet der Chortenor erneut mit dem aufschwingenden Anfangsmotiv, harmonisch raffiniert variiert, die andern Chorstimmen antworten und die Oboen spielen ihr Kontrapunktmotiv. Bewegt leiten die Chorstimmen unmerklich zum «Pleni-sunt-coeli» über und enden in einer Schlusskadenz auf «gloria ejus» in E-Dur. Unter der Anführung der Oboen tritt in einem kurzen Orchesterzwischenspiel nochmals Besinnlichkeit ein.

Altstimme und Bassstimme erinnern aber gleich wieder an das ständige aufschwingende Schweben der Serafine und eröffnen eine Art kanonische Engführung der musikalischen Motive und stellen ganz im Sinne der Jesaia-Vision musikalisch dar, wie sich die einen den andern ihr Heilig zurufen. Der Chor wendet sich dann immer mehr dem «Pleni sunt coeli et terra» zu, also der pan-en-theistischen Sicht, dass Gottes Glanz - «gloria eius» - in allem erkennbar ist. Das anfängliche Sanctus-Motiv zieht sich immer mehr ins Orchester zurück und verschwindet am Schluss ganz im gemeinsamen D-Dur-Jubel von Orchester und Chor.  

Wohl bei Weihnachtsgottesdiensten fügte Bach diesen festlichen «Engelsgesang» in die Leipziger protestantische Liturgie ein. Dadurch, dass dieses Sanctus später auch in das Bachwerk-Verzeichnis aufgenommen wurde, ist dieses festliche Werk auch heute noch aufführbar. Bach auf jeden Fall fand dieses Werk für den Gottesdienst bestens einsetzbar und in seiner überarbeiteten Form unbedingt wert, aufgeführt zu werden.

Sanctus, Sanctus, Sanctus
Dominus Deus Sabaoth.
Pleni sunt caeli et terra
gloria tua.

Heilig, heilig, heilig
ist Gott, der Herre Zebaoth.
Voll sind Himmel und Erde seiner Herrlichkeit.

Hinweis für Musikinteressierte

Website: Unbekannte Violinkonzerte

 

 

Erstelle deine eigene Website mit Webador