Frank Martin: Polyptyque, six images de la Passion du Christ, pour violon solo et deux orchestres à cordes (1973)

Teil der Rückwand des Polyptychons von Duccio di Buoninsegna

Frank Martin

geboren 15. Sept. 1890 in Genf

gestorben 21. Nov. 1974 in Naarden, Niederlande

Uraufführung:

9. Sept. 1973 in Lausanne durch Yehudi Menuhin und das Zürcher Kammerorchester, Leitung Edmond de Stoutz

Frank Martin, Sohn eines calvinistischen Pfarrers, studierte neben Komposition bei Joseph Lauber auch Mathematik und Physik an der Universität in Genf, wandte sich dann aber ganz der Musik zu. Sein Kompositionsstil, den er sehr eigenständig entwickelte, war eine Kombination der Zwölftonmusik Arnold Schönbergs und der traditionellen tonalen Musik. Gegen Ende seines Lebens wandte er sich vermehrt religiösen Inhalten zu. So zeigt sich seine geistige Verbindung zu Johann Sebastian Bach, insbesondere zur Matthäus-Passion, auch in einem seiner letzten Werke «Polyptyque, six images de la Passion du Christ, pour violon solo et deux orchestres à cordes » («Polyptique in 6 Bildern zur Passion Christi für Solovioline und zwei Streichorchester»). Polyptyque gilt als ein Meisterwerk des 20. Jahrhunderts und wird von bedeutenden Geigerinnen und Geigern immer wieder gespielt, obwohl der Zugang zu diesem Werk nicht einfach ist.

Zur Entstehung von Polyptyque, im Jahr 1973 uraufgeführt, gab Frank Martin noch selbst einen ausführlichen Kommentar:

«Als Yehudi Menuhin und Edmond de Stoutz mich baten, für sie ein Konzert für Violine und Streichorchester zu schreiben, hatte ich sofort die innere Überzeugung, dass es nach den Meisterwerken, die uns Johann Sebastian Bach auf diesem Gebiet hinterlassen hat, für mich kaum möglich sein würde, dies zu tun. Ich dachte, es wäre eher angebracht, eine Suite von relativ kurzen Stücken zu schreiben, eine Abfolge von Bildern zu einem Thema, von dem ich noch keine genaue Vorstellung hatte. Als ich in Siena ein Polyptychon von Duccio sah - eine Reihe von sehr kleinen Tafeln, die die verschiedenen Episoden der Passion darstellen -, drängte sich mir die Idee auf, etwas Ähnliches in der Musik zu versuchen. Aber Musik ist keine darstellende Kunst, und eine tatsächliche Darstellung der Szenen, so wie ich sie betrachten  konnte, kam nicht in Frage. Die verschiedenen Szenen, die ich heraufbeschwören wollte, konnte ich mir daher nur im Geiste vorstellen, und zwar so lebendig wie möglich. Danach versuchte ich, die Gefühle, die diese Szenen in mir auslösten, in Musik umzusetzen.

So stellte ich mir im Image des Rameaux eine lärmende Menschenmenge vor, die dem Einzug des Herrn in Jerusalem entgegeneilt, ihn umringt und bejubelt; ich spürte auch die Gegenwart Christi, dessen höheres Bewusstsein sich über diesen Tumult erhebt und weiß, wie menschlich und zerbrechlich diese momentane Herrlichkeit ist, und ich vertraute der Solovioline den Ausdruck dafür an.

Im Image de la Chambre haute sehen wir den Abschied, den Christus an seine Jünger richtet, die besorgten Fragen, die sie ihm stellen, und seine liebevollen Antworten.

Das Bild des Judas zeigt ein Wesen voller Angst, das im Herzen gequält wird; es ist vor allem das Bild einer Seele, die von einer Besessenheit ergriffen wird und schließlich in Verzweiflung zusammenbricht.

Das Bild von Gethsémané ist die Angst vor der Einsamkeit, das intensive Gebet „Lass diesen Kelch an mir vorübergehen“ und schließlich die totale Akzeptanz: „Dein Wille geschehe“.

Das Image du Jugement zeigt das volle Entsetzen der von allen Hemmungen befreiten Menge, ihre sadistische Freude an der Betrachtung des Leidens; und dann ist es der Weg des Kreuzes.

Als ich an diesem Punkt angelangt war, hatte ich das Gefühl, dass es keinen anderen möglichen Schluss als ein Image de la Glorification gibt.

Das ist es, was ich dachte und fühlte, als ich dieses Polyptyque schrieb. Ob es mir gelungen ist, diese ganz privaten Eindrücke in Musik zu übersetzen, ist eine andere Frage: Vielleicht wird diese Musik bei einigen Menschen dazu beitragen können, die Bilder der Passion in sich selbst wiederherzustellen; für andere werden es mehr oder weniger interessante, mehr oder weniger gelungene Stücke für Solovioline und zwei Streichorchester sein. Die Tatsache, dass ich mich auf die erhabene Persönlichkeit Yehudi Menuhins verlassen konnte, hat mich in meiner Aufgabe bestärkt, und ich habe den Teil für die beiden kleinen Orchester mit Edmond de Stoutz und seinem ausgezeichneten Zürcher Kammerorchester im Hinterkopf mit absolutem Vertrauen geschrieben.» Frank Martin

Hier zu hören (in der Interpretation von Christian Tetzlaff, 29 Minuten):

I. Image des Rameaux. Allegro non troppo ma agitato (00:00)
II. Image de la Chambre haute. Andante tranquillo (04:25)
III. Image de Judas. Allegro (11:39)
IV. Image de Gethsémané. Molto lento (13:45)
V. Image de Jugement. Largamente (18:16)
VI. Image de la Glorification. Andante - Allegro moderato (22:40)

 

Hörbegleiter:

I. Image des Rameaux   -
Allegro non troppo ma agitato

Wie das Bild des Palmsonntages von Duccio di Buoninsegna auf der Predella der Maesta aus dem Dom von Siena ist auch Frank Martins Komposition dreiteilig aufgestellt: zwei Menschenmengen (das jubelnde Volk und die Zwölf Jünger) und in der Mitte auf dem Esel der in Jerusalem einziehende Hoffungsträger Jesus aus Nazareth. Die Sologeige steht in der Mitte von zwei 5-stimmiger Streichorchestern.  

Bratschen und Celli beginnen erregt (agitato!) in je acht Einsätzen einen zweistimmigen Kanon, der die Erwartung sowohl der Jünger wie auch des aufgeputschten Volkes auf die neue Politik eines kommenden Messias darstellt. Nach einem beiden Orchestern gemeinsamem homophonen Höhepunkt beginnt der Kanon erneut von vorn und läuft ins Leere. Man glaubt sogar Hosianna-Rufe zu hören. Da greift die Sologeige rezitativisch ein. Der G-Dur Einstieg verwandelt sich in fallende Halbtonschritte und beruhigt die Aufregung, als ob die Geige in der Rolle Jesu die falschen Erwartungen hinterfragte. Die Hosianna-Rufe im Hintergrund verstummen, Zupfbässe suchen rhythmische Sicherheit.

Trotz dieser Intervention der Sologeige tauchen bei Volk und Jüngern neue Fragen und gar Empörungen auf.

Celli und Bratschen, sozusagen die Anführer in der Menge von Volk und Jüngern, streuen ein musikalisch brummelndes Gerücht ins Geschehen und werben um Aufmerksamkeit. Gelassen breitet sich die Sologeige in langen Tonphrasen über diesen Irrungen und Wirrungen aus. Ein hoffnungsvoller Aufstieg vereinigt alle in der Absicht, jetzt hinaufzuziehen nach Jerusalem, und endet in einem strahlend-harmonischen Schlussakkord.

II. Image de la Chambre haute –
Andante tranquillo

Die obere Kammer auf dem Abendmahlbild von Duccio di Buoninsegna stellt eine Szene aus dem Johannes-Evangelium dar. Da wo die andern drei Evangelisten (Matthäus, Markus, Lukas) von der Einsetzung des eucharistisch-eschatologischen Mahles berichten, stellt Johannes die Fusswaschung und die  Abschiedsreden Jesu ins Zentrum (Johannes Kapitel 13 – 17), um die zentrale Botschaft Jesu der Liebe praktisch hervorzuheben.   
Die Sologeige beginnt denn auch Jesu Abschiedsrede mit einem viertönigen Liebesmotiv, das sich in eine erläuternd-sprechende Melodie weiterentwickelt: «Ein neues Gebot gebe ich euch, liebt einander. Wie ich euch geliebt habe, so sollt ihr einander lieben. Daran werden alle erkennen, dass ihr meine Jünger seid: wenn ihr einander liebt» (Joh 13, 34-35). Die beiden Orchester lauschen anteilnehmend dieser schlichten Weisheits- und Erkenntnislehre, wie man letzten Einsichten eines Meisters zuhört.

Erst in einer zweiten Gesprächsphase erheben die beiden Orchester getrennt und gestenreich ihre Nachfragen. Aus höchster Höhe antwortet die Solovioline in ihrer Rolle als Jesus, der bereits in diesem letzten irdischen Mahl ein zukünftiges neues Zusammenwohnen verheisst. Die Antwort beruhigt den Orchesterklang. Die Sologeige beginnt eine grosse Aufwärtsbewegung und holt die beiden Orchester mit auf den Weg in eine verheissene Zukunft. Nochmals erinnert das Vierton-Motiv der Liebe an die entscheidende Praxis. Selbst in höchster Höhe ist dieses Motiv entrückt zu hören. Doch das Motiv steigt wieder hinunter zu den beiden Orchestern ins Hier und Jetzt.  

III. Image de Juda –
Allegro

Judas glaubte, sein politisches Ziel selbst in die Hand nehmen zu müssen, koste es auch einen Verrat und das Leben Jesu. So übernimmt er in diesem Bild von Duccio jetzt auch die Führungsrolle, und damit musikalisch auch die Sologeige.
Ein repetitiv bösartiges, machtgieriges Motiv treibt die Geige in den Kreis der in ihrer Macht bedrohten Gegner Jesu. Sofort umzingeln diese die Sologeige und wittern ihre Chance, Judas zusätzlich mit Geld auf ihre Seite zu ziehen und zum Verrat anzustiften. Die beiden Orchester wirken mit ihren verführerischen Argumenten und Angeboten auf einen Menschen ein, der von Enttäuschung, Machtgier und Geld immer mehr in die Enge getrieben wird.
Als schliesslich die Abmachung (der «Deal») steht, wird aus einem Verräter zunehmend ein Verzweifelter, der sich nicht mehr aus den Fängen der Machtgier und des Verrates retten kann sondern wie die Sologeige zum Schluss alleingelassen vereinsamt.

IV. Image de Géthsémané –
Molto lento

Unmittelbar anschliessend übernimmt die Solo-Geige, sozusagen solidarisch mit den Einsamen und Verzweifelten, wieder die Rolle Jesu, der im Garten Gethsemane betet. Die Doppelgriffe und angstvollen Klagen der jetzt allein spielenden Sologeige erinnern bewusst an die sechs Solo-Partiten und -Sonaten von J.S.Bach (Sei Solo, du bist allein, schrieb Bach bewusst doppeldeutig als Überschrift dieser berühmten Solostücke). In den immer wieder neu suchenden, sich aufwärtsbewegenden Geigenbewegungen sind die flehenden und angstvollen Bitten um Befreiung von Leid und Tod zu hören. Auch Jesu Blick zurück zum Haufen der schlafenden Jünger bringt nichts mehr als langezogene passive Klang-Atemzüge in den Orchestern. Die harmonisch neu ansetzenden abschliessenden Aufwärtsbewegungen der Geige können schliesslich als wiedergefundenes Urvertrauen in den  Heils-Willens Gottes empfunden und gedeutet werden. 

V. Image du Jugement –
Largamente

In seiner rauen musikalischen Drastik entzieht sich diese Szene der Verurteilung und Geisselung einem direkten Nachempfinden. Gewalt und Grausamkeit können nicht nachempfunden werden, ihnen müsste schlicht Einhalt geboten werden. Doch die Sologeige wählt ein ruhiges zwölftöniges Melos, um die Gewalt der grausamen Streicherklänge mit eigener Stärke zu entlarven. Ecce homo.  

Gegen Schluss läuft die Grausamkeit ins Leere, Jesu Identität ist nicht zu brechen, auch wenn sich der Sadismus, einen Menschen ans Kreuz zu nageln, auslebt. Hammerschläge der Kreuzigung und Schreie des Gemarterten vermischen sich. Nach einem «rallentando» werden die Schläge leiser, die Melodie und die Schreie Jesu scheinen die Peiniger zu beschämen.

Image de la Glorification -
Andante

(Frank Martin gibt keinen Hinweis auf ein bestimmtes Tafelbild von Duccio di Buoninsegna für seinen letzten Satz)

 

Die Verherrlichung bleibt Geheimnis, nur Glauben und musikalische Klang-Imagination nähern sich vorsichtig dem Erhofften. Bildlich und sprachlich kaum darzustellen, setzt Frank Martin auf den Bach-Anklang, wo sich Musik im besten Sinn des Wortes auf re-ligio, auf ein letztes All-Verbindendes bezieht.
Wieder öffnen Celli und Bratschen, diesmal mit einer Art Choral, den musikalischen Raum. Mit 16teln Figuren, die an barocke Schlusssätze von Violinkonzerten erinnern, übernimmt die Sologeige wieder ihre Rolle und geht mit ihren Aufwärtsbe-wegungen den Orchestern und uns voran. Das Hinaufgehen nach Jerusalem im ersten Bild wird jetzt zu einem Sich-Hinaufbewegen in die lichtvollen Klangwelten eines abschliessenden Jubels der Glorification, "der aber durchaus vollkommen menschlich bleibt, das ist kein überbordendes und peinliches Spektakel, sondern das ist etwas, wo man mit erleichteter Seele hinausgehen kann." (Christian Tetzlaff)

 

Hinweis:

Zwei herausragende Geiger haben ihre persönliche Beschäftigung mit Polyptyque dokumentieren lassen. Vergleiche auf Youtube:

Christian Tetzlaff

Thomas Zehetmair

 

Hinweis für Musikinteressierte:

Website: Unbekannte Violinkonzerte