Sofia Gubaidulina: Sonnengesang. Il cantico delle creature (1997, rev. 1998)

Sofia Gubaidulina und Originalseite aus dem Codex 338 aus dem Fondo Antico der Biblioteca Communale in Assisi, aufbewahrt im Sacro Convento di San Francesco, Assisi, Italien

Sofia Gubaidulina
geboren 24. Okt. 1931 Tschistopol, Tatarische ASSR,  Sowjetunion
gestorben 13. März 2025 in Appen, Deutschland

Uraufführung:
2. September 1998 in Frankfurt, Deutschland, durch  Mstislav Rostropovich, den State Choir of Kaunas und das Lithuanian National Symphony Orchestra

CD-Aufnahmen: 
Mstislav Rostropovich, London Voices, London Symphony Orchestra, Ryusuke Numajiri, 1999
Nicolas Altstaedt, Riga Chamber Choir, Maris Sirmais 2010

Sofia Gubaidulina widmete dem russischen Cellisten Mstislaw Rostropowitsch (1927-2007) zu seinem 70. Geburtstag eine eigene Komposition. Sie wählte als Text den «Cantico delle creature» von Franz von Assisi, den dieser ziemlich wahrscheinlich gegen Ende seines Lebens um die Jahre 1224-25 verfasste. Das Lob-Gedicht ist in «volgare umbro» überliefert, also in der Dialektsprache, die Francesco gesprochen hat. Inhaltlich wird der Sonnengesang oft als Natur- und Schöpfungsmystik fehlinterpretiert. Das Gedicht richtet sich direkt an Gott. Die creature, die ganze Wirklichkeit, selbst Leid und Tod, dienen als geschwisterlicher Anlass für Lobpreis und Dank an den Grund meiner («mi signore») und aller Wirklichkeit («Altissimu»).

Sofia Gubaidulina kommentierte den Sonnengesang und ihre Komposition: «Mir war klar, dass dieser Text keinesfalls fröhlich gesungen, die Ausdruckskraft dieses Hymnus nicht durch Musik verstärkt werden darf. Die Musik darf bei der Berührung mit solch heiligen Texten keineswegs gewählt, künstlich kompliziert oder übertrieben spannungsvoll wirken. Der Text stellt vielmehr eine Verherrlichung des Schöpfers und seiner Schöpfung durch einen sehr bescheidenen, einfachen Franziskanermönch dar. Ich habe mich daher bemüht, die Partie des Chores sehr zurückhaltend, geradezu unscheinbar zu gestalten und die ganze Expressivität in die Hände des Cellisten und der Schlagzeuger zu legen. Dagegen sind die Choristen sehr oft jene, die auf diese Expressivität lediglich reagieren. Dies ist auch der Grund dafür, warum im Zentrum des Werkes ein «Responsorium» genannter Abschnitt steht: Der Solist provoziert mit einer Geste (Glissandi mit einem Kontrabassbogen auf dem Flexaton) Reaktionen des Chores.
Formal gesehen gliedert sich das Werk in vier Abschnitte.
1. Verherrlichung des Schöpfers und seiner Schöpfung – Sonne und Mond
2. Verherrlichung des Schöpfers der vier Elemente: Luft, Wasser, Feuer und Erde
3. Verherrlichung des Lebens
4. Verherrlichung des Todes.»

Hier zu hören: 
1. Verherrlichung des Schöpfers und seiner Schöpfung – Sonne und Mond (10'12 Min.)
2. Verherrlichung des Schöpfers der vier Elemente: Luft, Wasser, Feuer und Erde (13'19 Min.)
3. Verherrlichung des Lebens (14'29 Min.)
4. Verherrlichung des Todes (7'23 Min.)

 

Hörbegleiter:

1. Teil:
Leise erklingt in G eine Fingerzymbel (kleine Metallschale mit hellem Klang). Ein tiefes C des Solo-Cellos öffnet einen Klangraum und durchmisst ihn mit mehreren chromatischen Glissandi. Glissandi, die jeweils mit Tönen des C-Dur-Dreiklangs beginnen und enden. Bis dann der Chorsopran die Quinte des letzten Cello-Glissandos auf hohem G strahlend übernimmt.  Kaum erreicht, wird der Ton aber mittels Sekundreibungen (zwischen as und fis) und einer Marimba dissonant getrübt. Es entsteht ein geheimnisvolles Flimmern der Klangsphäre. Dieses endet schliesslich wieder auf der reinen Quinte G eines Gläserspiels.

Im gleichen Klangraum drei Oktaven tiefer beginnen die Bässe mit wortlosem Bordun-Gesang auf G, während der Solo-Bass die erste Strophe deklamiert: «Altissimo… . «.

Dieser fast mittelalterlich und liturgisch wirkende Gesang wird von der Wiederholung der fast gleichen Glissandi des Solo-Cellos abgelöst, nun neu ergänzt mit Staccati-Sprüngen. Die Soprane drängen sich zugleich mit ihren melismatischen Einwürfen dazwischen und enden wieder im Klangflimmern des Anfangs und dem reinen Klang eines Gläserspiels auf G. 

Wieder rezitiert der Bass den Sonnengesang, und zum dritten Mal setzen die Glissandi des Solo-Cellos ein, erneut zusammen mit Staccati-Sprüngen, und der ganze Chor singt seine kurzen stammelnden Einwürfe. Alles zielt wieder auf den flimmernden Klangraumgesang und die Gläserklänge. Ein umfassender Lobes-Raum ist dreifach errichtet.

Der Bass rezitiert weiter: «e nullu homo…».
Im weiteren Verlauf fantasieren Cello und Chor mit den eingeführten musikalischen Klangelementen. Der Chor singt dazu ein chromatisch kreisendes Motiv. Das Cello verändert seine Glissandi in erzählende Cello-Improvisationen und übernimmt das chromatisch kreisende Motiv, das die Musik in der Folge subkutan immer wieder beeinflusst. Die Zwiesprache zwischen Cello und dem textlos A-singenden Chor intensiviert sich. Dabei spielt Gubaidulina mit dem Wechsel von temperierter Stimmung und Naturtönen, die sich nach einigen Anläufen des Cellos auf dem Anfangs- und Endton eines Schlussglissandos (auf einem gegriffenen temperierten Dis und auf dem höchstes Dis als Flageoletton) im gleichen ekstatischen Lob treffen.

Über dem chromatischen Flimmern der Sopranstimmen rezitieren nun Tenor und Bässe zusammen das Lob der Geschöpfe, zuerst speziell der Sonne.

Dazwischen fantasiert das Cello sein individuelles Lob.

Nach einem nächsten ekstatischen Cello-Glissando bis in die höchsten Höhen eröffnet sich ein leiser Dialog zwischen Cello und Gong, der zum Lob des Mondes führt.

Sopran- und Altstimmen rezitieren dazu die Worte des Sonnengesang, während das Cello in feinstem Tongespinn, zusammen mit Vibraphon und Zimbeln, so etwas wie Mondlicht zum Klingen bringt.

(Ob Franz von Assisi beim Wort «clarite» an Klara dachte, kann einem plötzlich durch den Sinn gehen).

2. Teil
Nach dem Lob des Schöpfers von Sonne und Mond folgt nun im nächsten Teil die Verherrlichung der vier Elemente.

Tenor Solo und Bass Solo leiten das Lob von Luft und Wind ein.
«Windiges» Schlagzeugzwischenspiel (mit Marimba) begleitet die Strophe.
Chorklänge, Vibraphon, Marimba und Cello-Glissandi leiten über zum Wasser.

Ein Solo-Sopran preist das Wasser.

Das Cello (mit fliessenden Läufen) sowie Vibraphon und Marimba begleiten.

Nach (Feuer-)Glockenklängen wendet sich der Chor der Männer sowie deren Solisten in besorgter Erregung dem Feuer zu.
Die ganzen Schöpfungswirklichkeiten verwandeln sich in Klänge.

Der mehrstimmige Alt- und Sopranchor bereiten den Einsatz von Sopran-Solo und Alt-Solo vor, um rezitativisch Land, Früchte und Pflanzen zu loben.



Zu Marimba- und Celesta-Klängen spielt das Cello-Solo eine chromatisch langsam absteigende Schlussphrase.

Ein längeres Zwischenspiel schliesst sich unmittelbar an:
Chor-Einwürfe und Cello-Glissandi des Anfangs wechseln sich ab und enden in einem gemeinsamen perkussiven Höhepunkt.

Nach dessen Verklingen steigt das Cello in C und A langsam wieder hoch und verweilt auf einem hohen Dis. Leben entwickelt sich.

Über Vibraphon und Chor-Gesang spielt das Cello das chromatisch kreisende Motiv und endet in einer Art Triller, der vom Vibraphon übernommen wird. Man darf an das Wunder der Anfänge des Lebens denken.

Diesem nun ständig, selbst in den Pauken kreisenden Triller werden Glissandi aufwärts und abwärts entgegengestellt. 

Nach einem Klang-Höhepunkt aller Beteiligten beginnt das Cello erneut allein mit seinem suchenden Motiv.

Der Chor ruft dem Cello «Altissimo» wiederholt und immer heftiger entgegen. Das Lob des Schöpfers für das Leben löst eine grosse Steigerung der Klänge aus, vom Cello angestossen und durch die Schlaginstrumente und die erregten Altissimo-Ausrufe gesteigert.

Mit erhöhtem rhythmischem Tempo des Cellos und mit Tenor-Einwürfen wird ein weiteres vibrierendes Klangfeld erreicht und durch die hohen Stimmen und Schlagzeug in höchste Ekstase getrieben, die nur langsam - zuletzt in den Chorstimmen - verklingt.

Wieder startet das Cello mit einer aufsteigenden Tonreihen-Folge (immer etwas höher werdend und den Naturtönen nachforschend) und erstirbt in höchster Höhe.

3. Teil:
Angesichts der überwältigenden Wirklichkeit beginnt das Solo-Cello neu mit seinem chromatischen Suchen. Vibraphon und Celesta bündeln die musikalischen Elemente, der Chor singt Glissandi.

Dann setzen zu den auskomponierten Cello- und Marimba/Celesta-Tillern die geteilten Altstimmen mit dem erneuten «Laudato si» ein:  gelobt wird der Höchste wegen derjenigen Menschen, die vergeben, Leid ertragen und Frieden suchen. Die Sopranstimmen wiederholen dieses Lob, ebenfalls leise rezitierend, während das Cello-Solo eine chromatische Tonreihe hochsteigt, beim Einsatz der rezitierenden Tenorstimmen dann abrupt abfällt und im tiefen Tonbereich seine chromatischen Figuren fortsetzt. Unmittelbar heftige Choreinwürfe führen zu einem grossen Aufschrei.

Das Cello beginnt von Neuem ohne Taktvorgabe eine Naturtonreihe aufwärts zu steigen. Zusätzlich stimmt der Cellist die C-Saite auf das tiefere A hinunter.

Die Komposition stösst angesichts der Grösse der Wirklichkeit an die Grenzen jeglichen musikalischen Systems. Das Cello oder wer immer in das Lob der unfassbar überwältigenden Wirklichkeit einstimmt, muss die eigenen bisherigen Ausdrucks-Möglichkeiten erweitern. Gubaidulina lässt das Cello Tremoli mit Holzschläger zwischen G- und D- Saite schlagen und Glissandi vom Steg zum Saitenhalter hin und zurück spielen.

Zum ständig mitschwingenden Gläserspiel (mit Fingern auf dem Glasrand reibend) spielt das Cello mit dem Bogen auf dem Saitenhalter.

Der/die Musiker/in muss gar das Instrument verlassen und mit Friktionsschlegeln auf dem Fell der Grossen Trommel kreisen.

Chor-Bassi stimmen Glissandi an. Die Komposition wird zu einem Ritual und zur Performance erweitert.

Der Cellist bzw. die Cellistin wendet sich  dem Chor zu und spielt – bei ständig gläsernen Tonschwingungen - 6 Glissandi auf einem Flexaton.

Der Chor antwortet singend auf die Flexaton-Glissandi. Das Ritual wird zu einem Hinweis auf etwas, was mehr ist, als was normale Musik ausdrücken kann. Das Ritual führt zum Gebet, zu einem «Miserere», das über dunklen Bassstimmen kaum hörbar gestammelt wird.

Nachdem der Cellist den ganzen Chor abgeschritten hat, kehrt er zurück. In der Partitur stehen die Anweisungen: «Auf halbem Weg bleibt er stehen und produziert – jetzt zum Publikum gewandt –
1) ein lang anhaltendes leises Glissando mit dem Bogen auf dem Flexaton
2) (ohne dabei ins Publikum zu schauen)
3) setzt sich und
4) ergreift wieder sein Cello.»

Mit mehrmaligem komponiertem Pizzicato-Zupfen wird das Cello wieder auf C gestimmt.

Von Plattenglocken begleitet steigt das Cello aus dunklen Klängen aufwärts, wie neu zum Lob ermächtigt. 

4. Teil:
Nach einem vollen Klanghöhepunkt und dessen Verklingen beginnen über den Sopran- und Alt- Stimmen Tenöre und Bässe die letzte Strophe zu rezitieren. Emphatisch und gestärkt begleitet das Cello das Lob der «Schwester Tod», die unausweichlich zur Wirklichkeit dazugehört.  

Marimba- und Vibraphonklänge kommen dazu.
Nach der Erwähnung der «morte secunda» erstarrt das Cello auf einem Ton, der sich ständig wiederholt. Dann singen Tenöre und Bässe «nol farra male».

Nochmals erstarren die Cello-Töne in Ehrfurcht. Sopran und Alt kommen dazu und brechen - angesichts der Grösse der ganzen Wirklichkeit - in staunende Ekstasen aus und verklingen in zauberhaften Klängen.

Zuletzt setzen die 4 Solostimmen stammelnd über den Schlagzeug-Klängen und den hohen freien Cello-Glissandi nacheinander ein, zuerst wortlos A-singend, dann die Schlusszeilen «Laudate e benedicete…» singend.

Das Cello mit seinen hohen Flageletttönen endet mit einem leisen Glissando, das nach oben verstummt.

















Altissimu, onnipotente, bon Signore,
Tue so' le laude, la gloria
e l'honore et onne benedictione.










Ad Te solo, Altissimo, se konfane,







e nullu homo ène dignu
Te mentovare.














Laudato sie, mi’ signore, cun tucte le tue creature,
spetialmente messor lo frate sole,

lo qual’è iorno, et allumini noi per loi.

Et ellu è bellu e radiante cun grande splendore,
de te, altissimo, porta significatione.

Laudato si’, mi signore, per sora luna e le stelle,
in celu l’ài formate clarite et pretiose et belle.










Laudato si’, mi signore, per frate vento,
et per aere et nubilo et sereno et onne tempo,
per lo quale a le tue creature dai sustentamento.

Laudato si’, mi’ signore, per sor aqua,
la quale è multo utile et humile et pretiosa et casta.

Laudato si’, mi’ signore, per frate focu,
per lo quale enn’allumini la nocte,
ed ello è bello et iocundo et robustoso et forte.

Laudato si, mi’ signore, per sora nostra matre terra,
la quale ne sustenta et governa,
et produce diversi fructi con coloriti flori et herba.



























Altissimo
Altissimo























Laudato si’, mi’ signore, per quelli ke perdonano per lo tuo amore, et sostengo infirmitate et tribulatione.
Beati quelli ke ’l sosterrano in pace,
ka da te, altissimo, sirano incoronati.






































Domine, miserere, Amen. (Von Gubaidulina in den Sonnengesang
eingefügtes Gebet)





















Laudato si’, mi’ signore, per sora nostra morte corporale,
da la quale nullu homo vivente pò skappare.
Guai acquelli, ke morrano ne le peccata mortali:
beati quelli ke trovarà ne le tue sanctissime voluntati,
ka la morte secunda


nol farra male. 






Laudate et benedicete mi’ signore,
et rengratiate et serviateli cum grande humilitate.

















Höchster, allmächtiger, guter Herr,
dein ist das Lob, die Herrlichkeit und Ehre und jeglicher Segen.










Dir allein, Höchster, gebühren sie







und kein Mensch ist würdig, dich zu nennen.














Gelobt seist du, mein Herr, mit allen deinen Geschöpfen,
besonders dem Herrn Bruder Sonne,
der uns den Tag schenkt und durch den du uns leuchtest.
Und schön ist er und strahlend in großem Glanz: von dir, Höchster, ein Sinnbild.

Gelobt seist du, mein Herr, für Schwester Mond und die Sterne.
Am Himmel hast du sie geformt, klar und kostbar und schön.








Gelobt seist du, mein Herr, für Bruder Wind,
für Luft und Wolken und heiteres und jegliches Wetter, durch das du deine Geschöpfe am Leben erhältst.

Gelobt seist du, mein Herr, für Schwester Wasser. Sehr nützlich ist sie und demütig und kostbar und keusch.

Gelobt seist du, mein Herr, für Bruder Feuer,
durch den du die Nacht erhellst. Und schön ist er und fröhlich und kraftvoll und stark.

Gelobt seist du, mein Herr, für unsere Schwester Mutter Erde,
die uns erhält und lenkt
und vielfältige Früchte hervorbringt, mit bunten Blumen und Kräutern.


























Höchster
Höchster























Gelobt seist du, mein Herr, für jene, die verzeihen um deiner Liebe willen und Krank-heit ertragen und Not.
Selig, die ausharren in Frieden,
denn du, Höchster, wirst sie einst krönen.





































Domine, miserere, Amen. (Von Gubaidulina in den Sonnengesang eingefügtes Gebet)





















Gelobt seist du, mein Herr, für unsere Schwester, den leiblichen Tod; kein lebender Mensch kann ihm entrinnen.
Wehe jenen, die in tödlicher Sünde sterben.
Selig, die er finden wird in deinem heiligsten Willen,
denn der zweite Tod wird ihnen kein Leid antun.






Lobt und preist meinen Herrn
und dankt und dient ihm mit großer Demut.

 

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