Klaus Huber: "Senfkorn" für Oboe., Violine, Viola, Violoncello, Cembalo und Knabenstimme (Sopran), in memoriam Luigi Dallapiccola (1975)
Klaus Huber geboren 30. November 1924 in Bern (Schweiz) gestorben 2. Oktober 2017 in Perugia (Italien)
Texte: Ernesto Cardenal nach Psalm 36 Jesaia, 11,6-7
Entstehung der Komposition: 1975, in memoriam Luigi Dallapiccola
Aufnahmen: 1990 Ensemble Alternance unter der Leitung von Arturo Tamayo 2008: Klangforum Wien
Als Jesus von Nazareth gefragt wurde, was denn eigentlich den Kern seiner «Guten Philosophie» ausmache, hat er mit dem Gleichnis vom Senfkorn geantwortet, um auszudrücken, was seine Hoffnungskategorie «Basileia tou theou» (Reich Gottes) meint: ein neues Zusammenleben in Gemeinschaft, schon jetzt, aber motiviert von der Hoffnung auf ein höheres Gelingen in Zukunft.
Klaus Huber übersetzt die jesuanische Vision in seiner Werkbeschreibung so: «Konkretisierung des „Neuen” in „Momenten höchsten Glanzes”.»
1975 komponierte Klaus Huber ein fein gewobenes Kammermusikstück für Solo-Knabenstimme, Oboe, Violine, Viola, Violoncello und Cembalo. Ein Knabe zitiert aktualisierte Aussagen des Psalms 36 des nicaraguanischen Befreiungstheologen Ernesto Cardenal und singt dann auf die Bach-Melodie «Es ist vollbracht» aus der Kantate BWV 159 den lateinischen Text der Isaias-Verheissung vom endzeitlichen Frieden (Jesaja 11, 6-7). Für Klaus Huber verkörpert der Knabensopran «eine neue (bessere) Welt. Aus dem kurzen Zitat, das auf der Dominante auslöscht (Cembalo, dann Violoncello pizzicato), treten abschließend die in Vergrößerung einzeln freigesetzten Grundmotive des Anfangs hervor: Konkretisierung des „Neuen” in „Momenten höchsten Glanzes”.»
Aus diesem selbständigen kurzen Kammermusikstück entwickelte Klaus Huber im Lauf der folgenden acht Jahre ein weitangelegtes Oratorium von über einer Stunde Dauer: «Erniedrigt – Geknechtet – Verlassen – Verachtet… für Stimmen, Chor, Orchester und Tonbänder.» Es erzählt von der entfremdeten Arbeit des Giessereiarbeiters Florian Knobloch, von den brasilianischen Slums, von den Bedingungen in US-amerikanischen Gefängnissen, vom Aufstand des Volks in Nicaragua und von einer Friedensvision. Das zärtlich gebrechliche Kammermusikstück «Senfkorn» wird in diesem politisch-sozialen Oratorium an fünfter Stelle zu einem «Fenster einer Hoffnung» (Klaus Huber). Wie im Gleichnis wuchs das Senfkorn gleichsam zum Baum eines Oratoriums.
Im Pianissimo fallen einzelne Streicher-Gesten (wie Senf-Körner?) in die Stille.
Nach einer längeren Ruhepause fallen in einem komplexen Gemisch weitere Einzeltöne in den Raum, jetzt ergänzt von einer Geste aus vier Tönen des Cembalos. Wieder Stille.
Nun treten zu den übrigen Einzelgesten noch Oboen-Töne dazu.
Etwas kürzere Stille. Aus dem stockenden Beginn wird im Cello eine auffällig melodiöse Geste leicht hervorgehoben. Aus den Einzeltönen wächst immer mehr ein musikalisch komplexes Ganzes heran. Dann tritt die Knabenstimme hinzu.
Stockend wächst das Ensemble weiter.
Stille.
Erneutes stockendes Anwachsen der musikalischen Komplexität. In der Oboe wird die melodiöse Geste erneut wahrnehmbar.
Stille
Das Ensemble wird dichter, wächst, Cembalo und Oboen bauen eine sich steigernde Klangfläche des Ensembles auf.
Die Instrumente verharren auf der erwachsenen Klangfläche.
Weitere Steigerung und Aufklärung des Gesamtklanges.
Alles mündet in die Bach-Melodie «Es ist vollbracht», wie sie in der melodiösen Geste des Anfangs schon angeklungen ist. Leise, noch zerbrechliche Hoffnung auf Frieden ist aus einem Senfkorn herangewachsen und trägt die Musik.
Das Cembalo hält insistierend an seinem Hoffnungston (in der Dominante) fest, das Cello schliesst sich pizzicato an.
Die Klangfläche vergeht.
Was bleibt schon?
Nur der Knabe singt.
Grundmotive des Anfangs klingen nach.
Nachklänge:
«Konkretisierung des „Neuen” in „Momenten höchsten Glanzes”.» (Klaus Huber)
Gesprochener Text von Ernesto Cardenal
Verlier nicht die Geduld, wenn du siehst, wie sie Millionen machen.
Ihre Aktien sind wie das Heu auf den Wiesen.
Lass dich nicht beunruhigen von ihren Erfindungen noch von ihrem technischen Fortschritt.
Den Führer, den du heute siehst, wirst du bald nicht mehr sehen, du wirst ihn suchen in seinem Palast – und nicht finden.
Die neuen Führer werden Pazifisten sein und Frieden machen.
Der Knabe singt den Text Jes 11,6-7) Habitat lupus cum agno et pardus cum hedo accubat vitulus et leo simul morantur
(Der Wolf findet Schutz beim Lamm, der Panther liegt beim Böcklein. Kalb und Löwe weiden zusammen)
Die Grossmächte sind wie die Blumen auf den Wiesen
und die Weltmächte wie Rauch.
et puer parvulus minat eos (Jes 11,6) (und ein kleiner Junge leitet sie.)
Und Kuh und Bär befreunden sich und werfen beieinander ihre Jungen.
Und Stroh frisst gleich dem Rind der Löwe (Jes 11,7)