Marc-Antoine Charpentier: In nativitatem Domini Nostri Jesu Christi canticum H.414 (1884)

„Monsieur Charpentier“ aus Pierre Landrys Almanach Royale (1682);
vermutlich Marc-Antoine Charpentier

Marc-Antoine Charpentier
geboren um 1643 in Paris,
gestorben 24. Februar 1704 in Paris

Komposition
1684 für Marie de Lorraine, Herzogin von Guise und Cousine von König Ludwig XIV., die in ihrem Hotel ein kleines Ensemble von Sängern und Instrumentalisten unterhielt, das Charpentier bis zum Tod der Prinzessin im Jahr 1688 leitete.

CD-Aufnahmen:
Aradia Ensemble, Kevin Mallon 1999
William Christie and Les Arts Florissants 2011



Von Marc-Antoine Charpentier sind mehr als 200 Motetten überliefert, die während kirchlichen Gottesdiensten gesungen und je nach dramatischem Inhalt auch szenisch aufgeführt wurden.
Während seines dreijährigen Aufenthalts in Rom liess er sich besonders von den Oratorien seines im Collegium Germanicum wirkenden Lehrers, Giacomo Carissimi (1605 – 1674), beeinflussen. Geistliche Werke dieser Art gab es damals in Frankreich noch nicht. Auch der Begriff Oratorio wurde von Charpentier nicht verwendet, heute spricht man daher eher von Historiae sacrae. Charpentier nannte seine pastoralen Weihnachtsoratorien jeweils Canticum.
Kein anderer Komponist hat wohl so vielfältige Beiträge zum Weihnachtsfest vorgelegt wie Charpentier.
Hervorzuheben sind u.a.: Canticum in nativitatem Domini H.393 (1670), In Nativitatem D. N. J. C. Canticum H.414 (1683–1685), In nativitatem Domini canticum H.416 (1680), In nativitate Domini Nostri Jesu Christi canticum H.421(1698 - 99), Dialogus inter angelos et pastores Judeae in nativitatem Domini H.420 (1690). Noël sur les instruments H.534 (1690) und die Messe de minuit pour Noël (1694).

Eines der attraktivsten Werke dieser Weihnachtskompositionen von Charpentier ist für mich «In nativitatem Domini Nostri Jesu Christi canticum» H 414. Das Werk hebt den pastoralen Charakter besonders schön hervor. Neben der Kürze und dem Fokus auf die Nachfolge der Hirten besticht es formal durch 9 sich abwechselnde, unterschied-liche Sätze: 1) Vorspiel (instrumental), 2) Rezitativ, 3) Aria, 4) Chor, 5) Marsch (instrumental), und nochmals 6) Rezi-tativ, 7) Aria, 8) Chor und 9) Schlussspiel (instrumental). Drei darstellende «Interlocutores» treten auf: ein Historicus, der/die den Erzähler einzeln oder in der Mehrzahl singen, ein Engel und die Hirten. Charpentiers Werke zeichnen sich durch Natürlichkeit und gleichzeitig feierlichen Ernst aus. Der Canticum H.414 zeichnet sich durch einfache Natürlichkeit und den Ernst der Darstellung einer schlichten volksnahen Weihnachtsgläubigkeit aus, wie sie in der nachreformatorischen Zeit von Gläubigen wie der Widmungsträgerin Marie de Lorraine, Herzogin von Guise und der katholischen Kirche in Frankreich gefördert wurden.

Der Aufbau von Canticum H 414 ist symmetrisch, wie öfters in Charpentiers Werken. In der Mitte erklingt ein Instrumentalstück in Form eines Marsches, der die Szene des Gangs zur Krippe von Bethlehem als Nachfolge darstellt, die wohl auch szenisch gut nachvollzogen werden konnte. Der tiefere Sinn der musikalischen Einfachheit ist dann nicht irgendeine Hirtenromantik oder Weihnachtsstimmung, sondern ein Aufruf zur Suche und Nachfolge Jesu. Auch an Weihnachten darf Jesu Grenzen überschreitendes Wirken, Tun und Lehren, was ihm schliesslich jung  das Leben kostete, nicht vergessen werden. Was diesen Wanderprediger Jeschua aus Nazareth ausmachte, wird leider oft in religiösen Feiern hinter volkstümlichen Ritualen und christologischen Titeln und Dogmen versteckt. Doch schon in den nicht biografisch gemeinten Kindheitsgeschichten wies der Evangelist und Theologe Lukas darauf hin, dass sich schon in Bethlehem Jesus - als ein erhoffter neuer König David - zuerst den Armen und den  Menschen im Dunkeln des Lebens zuwandt hatte, um ihnen einen erstrangigen, gleichberechtigten Platz in der Gemeinschaft zuzuweisen.

«In nativitatem Domini Nostri Jesu Christi canticum» H. 414 wurde 1684 für Marie de Lorraine, Herzogin von Guise und Cousine von König Ludwig XIV., geschrieben, die in ihrem Hotel ein kleines Ensemble von Sängern und Instrumentalisten unterhielt, das Charpentier bis zum Tod der Prinzessin im Jahr 1688 leitete. Anschliessend wurde er von den Jesuiten als Maitre de la Musique in der Kirche Saint-Paul-Saint-Louis angestellt. Charpentier starb 1704 verarmt in Paris.  

Hier zu hören (ca. 16 Min.)


Hörbegleiter:

Praeludium
Kurze Instrumentale Einleitung für zwei Violinen und/oder zwei Flöten und Basso continuo. In pastoralem Dreiertakt folgt auf einen fein und transparent gestalteten dreistimmigen A-Teil ein weiterführender B-Teil. Dann wird der A Teil frei und bewegter wiederholt.

Récit de l’ Historien
Ein Sopran erzählt, nur vom Basso continuo begleitet, frierend von der dunklen Situation der Welt, vergegenwärtigt eindrücklich den profunden Schlaf der Menschheit und leitet über zu den wachenden Hirten Judäas. Nicht ungewohnt, dass eine zweite Sopran-Erzählerin bei Charpentier dazukommt, wohl um das völlig überraschende Geschehen der Engelserscheinung und der claritas Dei zweifach zu bezeugen!).

Air de l'Ange
Der Engel reagiert beruhigend auf die Furcht der Hirten mit einer beschwingten D-Dur Sopran-Aria in Quasi-Rondoform. Instrumentale Ritornellos begleiten seine Botschaft: Was man so allgemein als Befreiung und bessere Welt erleben möchte, findet sich klein und unscheinbar und erst zeichenhaft in einer Krippe. Man soll aber hingehen und die Zeichen erkennen. So schlicht bewegend und engagiert klingt auch Charpentiers Musik…

Chœur des Bergers
… und so mitreissend - allerdings im etwas mühsameren vier Vierteltakt - wirkt der sechsstimmige Chor der neugierigen Hirten, die selber sehen und sich selbst überzeugen wollen, gegen alle kontrapunktischen Hindernisse und die natürliche Trägheit.






Marsch
Nichts Gutes, ausser man tut es: Symbolisch steht in der entscheidenden Mitte dieses Canticums und der Erzählung ein schlichter instrumentaler Marsch der aufbrechenden, suchenden und sich bewegenden Hirten.

Récit de l’ Historien
Am Ort des Geschehens angekommen - so erzählt der Bass detailiert -  sind die Hirten überwältigt von der schlichten Geburt eines gewöhnlichen Kindes, dem Anfang jeglichen neuen Lebens. Ein Zeichen, das auch die bessere Welt noch am Anfang steht.



Air d'un berger et chœur
Den tief berührten Hirten komponiert Charpentier ein einfaches Weihnachtslied, wie es der damaligen französischen Weihnachtstradition entspricht (Ähnlich gebraucht Charpentier auch in seiner bekannten Messe de minuit Melodien bestehender französischer Weihnachtslieder).

Jedes Couplet des volksreligiösen Liedes wird vom fünfstimmigen Chor wiederholt, auch eine Tradition französischer Chanson-Tradition.

Ohne Worte wiederholen jedes Mal die Instrumente mit ihren Ritornellen, was letztlich unaussprechbar Geheimnis allen Anfangs ist.

Praeludium







Historicus (Rezitativ)
Frigidæ noctis umbra totum orbem tegebat, et immersi iacebant omnes in somno profundo. Pastores autem Iudeæ vigilabant super gregem suum.
Et ecce angelus Domini stetit iuxta eos, et claritas Dei circumfulsit eos.  Timuerunt autem pastores timore magno; et dixit illis angélus:

Angelus (Aria)
Nolite timere, pastores. Ecce enim annuntio vobis gaudium magnum quod erit omni populo: quia natus est hodie Salvator vester in civitate David; et hoc erit vobis signum: invenietis pannis involutum et reclinatum in præsepio. Ite, pastores, et adorate illum.



Pastores (Chor)
Surgamus, festinemus, eamus usque Bethlehem. Properemus, eamus usque Bethlehem. lbi videbimus puerum qui natus est nobis. Ibi laudabimus et adorabimus Deum sub forma peccatoris velatum. Quid moramur, quid cunctamur, o pastores inertes?




Marsch






Historicus (Rezitativ)
Euntes autem pastores pervenerunt ad locum ubi puer natus erat, et intrantes domum invenerunt Mariam et Ioseph et puerum involutum pannis et reclinatum in præsepio. Et procidentes adoraverunt eum, inculto sed devoto carmine dicentes:

Hirte und Chor

Hirte:

Salve, puerule,
Salve, tenellule,
O nate parvule,
Quam bonus es !

Tu cælum deseris,
Tu mundo nasceris,
Nobis te’ut miseris 
Assimiles.

Der Chor wiederholt die zwei Strophen, danach
Instrumenten-Ritornell

Hirte:
O summa bonitas,
Excelsa deitas,
Vilis humanitas,
Fit hodie.

Æternus nascitur,
Immensus capitur,
Et rei tegitur,
Sub specie.

Instrumenten-Ritornell

Hirte:
Virgo puerpera,
Beata viscera,
Dei cum opera,
Dant filium.

Gaude flos virginum,
Gaude spes hominum,
Fons lavans criminum
Proluvium.

Der Chor wiederholt die beiden Strophen,
zum Schluss nochmals das  Instrumenten-Ritornell

Praeludium







Erzählung des Evangelisten
Der Schatten der kalten Nacht bedeckte die ganze Welt, und alle lagen in tiefem Schlaf. Aber die Hirten von Judäa hüteten ihre Herde. Und siehe, ein Engel des Herrn stand neben ihnen, und der Glanz Gottes umstrahlte sie. Und die Hirten wurden von großer Furcht erfüllt; und der Engel sprach zu ihnen:

Engel (Arie)
Fürchtet euch nicht, ihr Hirten. Denn siehe, ich verkünde euch eine große Freude, die dem ganzen Volk zuteil-werden soll: Denn heute ist euch in der Stadt Davids der Retter geboren; und das soll euch als Zeichen dienen: Ihr werdet ihn finden, in Windeln gewickelt und in einer Krippe liegend. Geht hin, ihr Hirten, und betet ihn an.

Chor der Hirten
Lasst uns aufstehen, lasst uns eilen, lasst uns nach Bethlehem gehen. Lasst uns uns beeilen, lasst uns nach Bethlehem gehen. Dort werden wir das Kind sehen, das für uns geboren wurde. Dort werden wir Gott preisen und anbeten, der sich in der Gestalt eines Sünders verhüllt hat. Warum zögern wir, warum zögern wir, oh träge Hirten?

Marsch






Erzählung des Evangelisten
Und die Hirten gingen hin und kamen zu dem Ort, wo das Kind geboren war, und als sie das Haus betraten, fanden sie Maria und Josef und das Kind, das in Windeln gewickelt in einer Krippe lag. Und sie fielen nieder und beteten es an und sangen ein einfaches, aber frommes Lied:

Hirte und Chor

Hirte:
Sei gegrüßt, kleiner Junge,
Sei gegrüßt, Zärtlicher,
O neugeborenes Kind,
Wie gut du bist!

Du verlässt den Himmel,
Du wirst in die Welt geboren,
Du machst dich wie uns,
In deiner Barmherzigkeit.

Der Chor wiederholt die zwei Strophen, danach Instrumenten-Ritornelle

Hirte:
O höchste Güte,
Erhabene Göttlichkeit,
Demütige Menschlichkeit,
Wird heute geschaffen.

Der Ewige ist geboren,
Das Unendliche ist enthalten,
Und ist in Materie verhüllt,
In menschlicher Gestalt.

Instrumenten-Ritornell

Hirte:
Die jungfräuliche Jungfrau,
Gesegnet sei ihr Schoß,
Mit Gottes Werk,
Gebiert einen Sohn.

Freue dich, Blume der Jungfrauen,
Freue dich, Hoffnung der Menschheit,
Die Quelle, die die
Flut der Sünden wegspült.

Chor wiederholt die beiden Strophen, danach Instrumenten-Ritornell

 

Hinweis für Musikinteressierte

Website: Unbekannte Violinkonzerte

 

 

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